20.12.23
Die Mandelkern-Kolumne / Folge 10
Ganzheitlich? Nein danke!
Schon vor 10 Jahren wusste ich, wie man sich richtig unbeliebt machen kann. Trotzdem habe ich mir ein Herz gefasst und mit Verve gegen einen populären Newcomer unter den Modewörtern gestänkert. Geholfen hat es nichts. Dafür wurden wir ein Jahr später Fußballweltmeister. Ganzheitlich zwar, aber immerhin.
Per Mertesacker tut es, Raghuram Raja tut es, (fast) jeder Heilpraktiker tut es; sogar Guiseppe Verdi soll es schon getan haben: Sie alle gehen (oder gingen) ganzheitlich vor. Igitt! Sie ist einfach nicht mehr totzukriegen, diese fragwürdige Frucht der New Age-Bewegung. Schlimmer noch. Ausgebrochen aus dem Reservat alternativer Heilmethoden, scheint die Ganzheitlichkeit nun auch in der Gegenwelt, also der „ganz normalen“ Wirtschaft, ihren Siegeszug anzutreten. Dass die Physiotherapie aus diesem Geiste mittlerweile fast an jeder Straßenecke zu haben ist – geschenkt. Aber wenn ein amerikanischer Starökonom die ebensolche Regulierung der Finanzmarktteilnehmer fordert, staune ich schon noch. Nicht mehr wirklich dagegen über den westfälischen Mittelständler, der seinen „Erfolgsfaktor ganzheitliche Personalkultur“ rühmt. Und Lösungsansätze von Unternehmensberatern tun es längst nicht mehr drunter.
Kann es da verwundern, wenn auch intelligente Innenverteidiger sich auf der Höhe der Zeit bewegen? „Wir denken mehr in einer ganzheitlichen Abwehrstrategie“, sagte im März 2013 der hochgewachsene Kopf von unser aller Viererkette. Hoffen wir, dass er und seine Kollegen bis zur WM am Zuckerhut die lästigen Löcher schließen können, die sich immer wieder darin auftun. Derweil wuchert die Giftpflanze weiter. Nur tapfere Kommunikationschefs, seltene Sprachpfleger in der Unternehmenswirklichkeit, versuchen manchmal noch, ihre Blüten aus den Imagebroschüren herauszuhalten. Meist argumentieren sie, ‚ganzheitlich‘ sei eine ziemlich abgenutzte Werbephrase. Mit durchwachsenem Erfolg.
Wie es scheint, braucht es schwerere Geschütze als den guten Geschmack. Laden wir also durch. Unsere Haubitze: Erkenntnistheorie; unsere Munition: zwei schlichte Sätze, die dem gesunden Menschenverstand aber schwer zu schaffen machen. Den ersten hat uns kein geringerer als Immanuel Kant eingebrockt. Bekanntlich kam der große kleine Königsberger zu dem Schluss, das Ding an sich sei unerkennbar. Griffig, aber rätselhaft. Entsprechend lang ist die Liste der Deutungen. Mir gefällt am besten die von Gregory Bateson. Sinngemäß: wir haben in unserem Kopf keine Bratwürste oder Taschentücher, sondern Vorstellungen davon. Über diese schrieb Alfred Korzybski den berühmt gewordenen Aphorismus: „Die Karte ist nicht das Territorium.“
Aber auch die Karte ist natürlich keine richtige Landkarte, aus Papier, zum Auseinanderfalten, sondern gewissermaßen die Karte einer Karte. Unversehens befällt uns die Ahnung, dass wir soeben in einen unendlichen Progress schlittern, so wie wenn wir in einen dreiseitigen Spiegel schauen. Besser, wir steigen schnell wieder aus – wir vergeben uns nichts. Denn bei der endlosen Kette der Karten von Karten geht es eher um die Frage, welcher Art die Bilder oder Vorstellungen sind, die uns Sprache liefert, und dafür gibt es, wenn ich es richtig sehe, bis heute keine wirklich gute Theorie.
Die Ganzheitlichkeit bekommen wir zum Glück auch so geknackt. Ganz einfach: So wenig, wie ein Ding an sich erkennbar ist, weil es immer durch den Filter unserer Wahrnehmungen hindurch muss und dann als Karte heraus kommt, so wenig können wir dieses Ding, einen Vorgang oder einen Menschen in seiner Ganzheit erkennen. Schon gar nicht eine Organisation oder auch nur Aspekte einer Organisation, einfach überhaupt nichts. Das ist der zweite Satz: Wir haben nie genug Karten. Nehmen wir nur eines von unseren schon erwähnten Taschentüchern: Ist es aus Stoff oder aus Papier? Und wie ist die Ökobilanz des einen verglichen mit dem anderen? Was bedeutete der Siegeszug des Papiers für die vielen Menschen, die früher unsere Taschentücher gewebt, gefärbt, gesäumt, verpackt, verkauft, gewaschen, geflickt haben? Für die erste Frage bräuchten wir Ökologen, Biologen, Forstwissenschaftler, Umweltingenieure. Für die zweite Soziologen, Juristen, Historiker, Anthropologen und Kulturwissenschaftler, mindestens.
Nase putzen, ganzheitlich
Jeder von ihnen könnte aus seiner Fachperspektive eine lange Abhandlung schreiben. Würden wir sie alle lesen, wären wir dann imstande, unser armes kleines Taschentuch ganzheitlich zu betrachten? Noch lange nicht. Denn wie steht es mit den Physikern? Wären sie in der Lage, uns zu sagen, aus wie viel Atomen – Millionen vermutlich – das eine besteht und aus wie vielen das andere? Ich fürchte, nicht einmal die. Und die Ökonomen? Wer sagt uns, ob die aktuelle Kosten-Nutzen-Bilanz gut genug ist, um im Wettbewerb zu bestehen? Ob und wie die gestiegenen Kosten auf die Preise überwälzt werden können?
Dabei wollte ich doch eigentlich nur die Nase schneuzen. Langsam, auch das ist nicht ohne. Ich lernte einmal einen Heilpraktiker kennen, der die Ansicht vertrat, das Schneuzen treibe einen größeren Teil des Substrats in die Nasennebenhöhlen und sei deshalb für seine chronische Sinusitis verantwortlich gewesen. So habe er sich angewöhnt, statt zu schneuzen alles hochzuziehen und dann herunterzuschlucken. Die Magensäure erledige den Rest. Hat er recht? Man stelle sich die ganzheitliche Untersuchung nur dieser einen – eigentlich überschaubaren - Frage vor und wird hoffentlich zugeben: aussichtslos. Denn wir haben immer mehr Fragen als Antworten, und jede neue Antwort gebiert beliebig viele neue Fragen. Das liegt daran, dass wir selbst nur „Teil von“ sind und das Ganze nicht überblicken. Als Geschöpfe der Evolution kennen wir weder ihr Ziel, wenn es denn eines gibt, noch ihren Sinn. Können wir uns also darauf einigen, dass man sich nicht einmal die Nase ganzheitlich putzen kann? Fein, denn es geht auch so.
Von Nassim Nicholas Taleb stammt die bemerkenswerte Betrachtung, dass fast jedes Kind Fahrradfahren lernt, obwohl es nichts von der Physik des Fahrradfahrens versteht. Dieser Gedanke begründet seine „opake“ Erkenntnistheorie: Im Allgemeinen, so Taleb, sind wir im Handeln besser als im Denken. Tatsächlich funktioniert unser ganzes Leben so. Wir haben einen Beruf erlernt, haben Hobbys, sind Könner in vielen Lebenslagen. Aber würden wir nach unseren Erfolgsrezepten gefragt, so müssten wir immer mehr Antworten schuldig bleiben, je tiefer jemand nachfragt. Wir operieren mit Heuristiken. In anderen Worten: Wir perfektionieren nicht Erkenntnisse, sondern Faustregeln.
Nicht jeder hält das offenbar gut aus – und so hebt er (oder sie) die Ganzheitlichkeit auf den Schild. Ich konzediere gerne: Es kann wehtun zuzugeben, dass wir nichts wirklich wissen können. Dass „Wahrheiten“ eher Verhandlungsergebnisse sind, entstanden aus dem Abgleich der Wirklichkeiten, die jeder für sich in seinem Kopf konstruiert. Und dass nicht nur jede individuelle Wirklichkeit anders ist als die der anderen. Angesichts der unfassbaren Explosion von verfügbaren „Karten“ ist sie obendrein nur eine Träne im Ozean. Die Ganzheitlichkeit aber wischt das alles mit einer großen Geste vom Tisch und - macht sich lächerlich.
Halt, halt, werden jetzt ihre Apologeten rufen, uns geschieht Unrecht. Es heißt doch gar nicht „ganz“, sondern „ganzheitlich“. Uns geht es um Näherungen, um eine, wie man auch sagen könnte, gesamthafte Betrachtung. Fragen wir also: Was bedeuten ‚heitlich‘ oder ‚haft‘? Denken wir noch einmal an Talebs Fahrradfahrer. Niklas Luhmann war in seiner Systemtheorie schon zu einem ganz ähnlichen Schluss gekommen: Teilsysteme funktionieren autonom; es ist nicht nötig, das Ganze zu überblicken und zu verstehen, um sich erfolgreich in ihnen zu bewegen. In diesem Sinne könnte ‚ganzheitlich‘ oder ‚gesamthaft‘ ausdrücken wollen: „Wir möchten für jede Aufgabe die richtigen Teilsysteme in den Blick bekommen.“ Einverstanden, aber das würde ich lieber ‚systemisch‘ nennen. Schon, weil es bescheidener klingt. Weil darin die Haltung steckt, dass es bei der Identifikation der richtigen Teilsysteme, der geeigneten Ansatzpunkte oder Stellschrauben, um einen gemeinsamen Suchprozess, um einen Diskurs geht.
Gewiss, auch der Begriff ‚systemisch‘ kann durch Übernutzung im Marketing verschlissen werden. Zu befürchten ist das aber so bald nicht. Zu groß bleibt der Reiz, den die Ganzheitlichkeit nach wie vor auf die Prospekteschreiber ausübt. Denn wir haben gelernt, den Grund für die Flut unserer „Karten“, die Spezialisierung, als Treiber von Entfremdung zu beklagen. Dabei ist sie nur die Folge von Arbeitsteilung, und die ist ein anderes Wort für Ökonomie. Wer sich also fragmentiert fühlt und zu einer Einheit mit der Schöpfung zurücksehnt, die es so nie gab und nie geben wird - außer bei indischen Gurus -, für den ist die Ganzheitlichkeit reizvoll. Und jene, die dieses Bedürfnis bedienen, haben vermutlich nichts gegen den Eindruck, dass sie zwar vielleicht auch nicht mit Ganzheiten umgehen können, aber - ‚heitlich‘ und ‚haft‘ - doch mehr wichtige Teilaspekte in den Blick bekommen als andere. Diese Suggestion zielt auf die Erlangung eines Wettbewerbsvorteils. Manche, die ihn als unlauter ansehen, kontern gerne mit einer abschätzig gemeinten Qualifizierung ihrer Urheber: „Gutmenschen“. Ich kann sie verstehen.
Ach ja, was war das noch mit Verdi? Nun, in einem kürzlich gesendeten Hörbild zu seinem zweihundertsten Geburtstag hieß es, dass er in seinem Kunstanspruch mit fortschreitendem Alter immer ganzheitlicher geworden sei. Gemeint war: Er habe sich bei seinen Opern nicht mehr damit begnügt, die Noten zu setzen und mit dem Librettisten zu streiten, sondern auch auf Bühnenbild, Maske und Kostüme Einfluss genommen. Ich bin sicher: Könnte der Maestro, der nicht nur ton-, sondern auch sprachgewaltig war, das hören, er würde sich im Grab umdrehen. Klingkling, Tschingtsching und Paukenkrach.
27. November 2013
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