Die Mandelkern-Kolumne / Folge 6

Vorsicht: Wegweiser!

Ihr Ansprechpartner: Karl-Heinz Schulz Karl-Heinz Schulz

Zugegeben: Heute heißen sie anders, aber sonst beansprucht noch alles Gültigkeit in meinen unzeitgemäßen Betrachtungen über Geltungsbedürfnis und Glaubwürdigkeit in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft. Kurz gefasst: Nicht nur Macht hat ihren Preis, auch Einfluss.

Kein Wegweiser steht da, wo er hinzeigt. Zahllose Weisheiten haben praktische Philosophen zum Zweck einer guten Lebensführung ersonnen. Doch in den einschlägigen Sammlungen taucht diese nicht auf. Dabei ist sie nach meinem Eindruck mächtiger als die meisten – und von einer frappierenden Treffsicherheit. Jean-Jacques Rousseau zum Beispiel, Verfasser des ‚Contrat social’ und Wegbereiter der französischen Revolution, schrieb auch einen Erziehungsroman: ‚Emile’. Große Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi und Maria Montessori ließen sich von ihm inspirieren. Seine eigenen fünf Kinder dagegen gab der Leuchtturm der Aufklärung sämtlich bei den ‚enfants trouvés’ ab, einer Art Fundbüro mit bekannt niedriger Lebenserwartung für die unglücklichen ‚Findelkinder’.

Wir ahnen: Unser Spruch bürstet die Weisheit gegen den Strich – oder sollten wir sagen: die Weisen, zumindest manche von ihnen? Max Scheler jedenfalls, sein Schöpfer, ersann ihn eher unfreiwillig: Im Laufe seines wechselvollen Lebens war der Begründer der modernen Wertephilosophie auch etliche Jahre Katholik - und das mit solchem Nachdruck, dass seine Schriften aus diesem Geiste besonders großes Aufsehen erregten. Freilich vertrug sich damit nicht ganz seine ausgeprägte Passion für das andere Geschlecht. Schon in Jena hatte der jungverheiratete Dozent seinen Posten räumen müssen - wegen einer Affäre mit der Frau des Nietzsche-Verlegers Diederichs. In München, der nächsten Station seiner akademischen Karriere, gab es einen noch größeren Skandal, als seine Frau ihn öffentlich zu großer Sympathien für eine seiner Studentinnen zieh. Nicht nur verlor er wieder seine Stelle. Er sah sich auch mit unangenehmen Fragen konfrontiert: Wie ein Herr mit so forcierter Ethik immer wieder in derart verfängliche Situationen geraten könne? Es fiel der denkwürdige Satz: „Von einem Wegweiser erwartet man ja auch nicht, dass er den angezeigten Weg geht.“

Geniestreich eines Lebemanns

Wie so oft, könnte man nun auch an dieser Stelle meinen, der Volksmund habe es schon immer gewusst: Wasser predigen und Wein trinken. Mit dieser griffigen Formel pflegt er bigottes Verhalten zu entlarven. Aber zur Bigotterie gehört die Heimlichkeit des Weins, und Heimlichkeit kann man Scheler nun wirklich nicht vorwerfen. Im Gegenteil: Wo jeder andere sich mit halbgaren Ausflüchten zu retten versucht hätte, gelingt dem in die Enge getriebenen Philosophen ein Coup, der Freund und Feind die Sprache verschlägt. Doch wie hat er das gemacht? Was hat er da eigentlich genau gesagt? „Ich bin ein Wegweiser“, so könnte man vielleicht umformulieren und meint dann noch heute ein beträchtliches Selbst-, ja Sendungsbewusstsein zu hören, „und wenn auch für mich das Ziel unerreichbar ist, so kann ich doch anderen viel Gutes tun, indem ich ihnen den Weg dorthin weise“. Der Auserwählte als eine Art Gefäß für Größeres, das sein eigenes Fassungsvermögen übersteigt – meinte er das, der Lebemann?

Oder muss man ihn sich eher mit einem leichten Augenzwinkern vorstellen, innerlich schmunzelnd über die heillose Verwirrung, in die er sein Gegenüber mit dieser Metapher stürzte? Denn das Vertrackte ist, dass sie funktioniert, obwohl sie nicht funktioniert. Wegweiser bewegen sich nun einmal nicht, und der Menschen Geschick ist eine lebenslange Reise. Würde sich einer – sagen wir: auf der Rennbahn - hinstellen und ausrufen: „Oh, ein weißer Schimmel!“, schüttelten alle verständnislos den Kopf. Schelers Pleonasmus ist im Grunde nichts anderes und bewahrt doch bis heute einen rätselhaften Glanz.

Denker des Abendlandes

Gewiss hat das damit zu tun, wie unnachahmlich die Sentenz den abendländischen Typus des heroischen Vordenkers und Künstlers auf den Punkt bringt. Rousseau und Scheler befinden sich ja in zahlreicher, bester Gesellschaft. Mit Karl Marx zum Beispiel, der die Menschheit von Not und Elend befreien wollte und seine Nächsten reichlich damit versorgte. Oder dem Humanisten Goethe, der ein armes Mädchen kaltblütig köpfen ließ. Es hatte in vermeintlich auswegloser Situation sein neu geborenes, uneheliches Kind umgebracht. Als Gretchen hat es der Olympier im Faust verewigt. Selbst Albert Einstein, der die Welt mit seiner Physik verzaubert und mit seiner Menschlichkeit gewärmt hat, galt den eigenen Söhnen als unzugänglich und kalt.

Wie es scheint, sind Genies für ihr Umfeld häufig nicht erfreulich. Warum? Die meisten von uns würden die Gründe wohl zuerst in der Person vermuten. Nicht so Karl Popper. Der große Wissenschaftstheoretiker hat auch eine bemerkenswerte Kunstauffassung entwickelt. Diese polemisiert gegen die populäre Vorstellung, dass ein Künstler sich in seinem Werk selbst verwirkliche. Für Popper ist es genau umgekehrt: Ein Werk sucht sich seinen Schöpfer und führt diesen nach seinen, nicht dessen Gesetzmäßigkeiten. Das Werk verwirklicht sich, nicht der Künstler. Wohl aber kann dieser – und das ist mein Zusatz zu Poppers Theorie - von dem Umstand, auserwählt zu sein, mehr durchdrungen werden, als ihm selbst und seinen Mitmenschen gut tut. Nicht die Kunst braucht das, womöglich aber ein Mensch wie du und ich. Große Wegweiser gleichwohl.

Und die kleinen Wegweiser?

Richtig, die gibt es ja auch noch: die vielen kleinen bis mittelgroßen Exemplare dieser Gattung. Wegweiser, wo man geht und steht. Die Ikone der Frauenbewegung, die sich als geltungssüchtiger Macho erweist. Der Soziopath, der am liebsten Abhandlungen über eine neue Kultur der Zusammenarbeit schreibt. Der superscharfe Staatsanwalt, angetreten, den Augiasstall der Finanzwelt auszumisten und gelandet im Bordell. Management-Gurus nach Belieben. Fast könnte man meinen, solche Menschen machten zu ihrer Kernkompetenz, was ihnen am meisten fehlt. Dergleichen wird gern über Psychologen gesagt. Ich habe das immer als Sottise empfunden und im wirklichen Leben häufig widerlegt gesehen. Aber die Denkfigur drängt sich auf: dass ich von etwas fasziniert bin, weil es mir so sehr fehlt.

Selbst solche Wegweiser kann das treffen, die eigentlich richtig und richtig gut da stehen. Einem großartigen Therapeuten verdanke ich den Satz: „Jeder Mensch braucht Heimlichkeiten.“ Und je mehr jemand in der Öffentlichkeit steht, setzte er hinzu, desto bizarrere Formen kann dieser Wunsch annehmen. Denken wir an einen hoffnungsfrohen amerikanischen Fernsehprediger am Beginn seiner Karriere, und meinen wir es ausnahmsweise gut mit ihm. Müssten wir ihn dann nicht in bester Absicht warnen: je größer deine Zuschauerzahlen, bekanntlich direkt korreliert mit dem Fundamentalismus deiner Rhetorik, desto höher die Wahrscheinlichkeit für dich, in einem fremden Bett ertappt zu werden?

Wege weisen ohne zu weisen

Damit sind wir womöglich am entscheidenden Punkt. Die Schwierigkeit, stets zu tun, was man sagt, ist allen Menschen geläufig. Doch ist das nicht Schelers Thema. Ihm geht es vielmehr um die Einheit von Wort und Tat unter den Bedingungen der Prominenz. Hervorragend – so lautet das heimliche tertium comparationis zwischen Wegweiser und Zweibeiner. Und dessen Botschaft muss man wohl so verstehen: Wenn es zu einem Konflikt kommt zwischen Prominenz und Glaubwürdigkeit, dann wähle die Prominenz. Der Zweck heiligt die Mittel. Mahatma Gandhi dagegen fand: „Das Ziel ist im Weg wie der Baum im Keim.“ In anderen Worten: Kann eine Lehre ohne Schaden bleiben, deren Schöpfer Schädliches tut? Und was bewirkt dann ihre Verbreitung? Noch weiter ging ein anderer Nicht-Wegweiser schon vor mehr als zweitausend Jahren: „Darum sagt der Weise: Ich gebe der Stille den Vorzug, und die Menschen kommen von selbst in Ordnung.“ Die zweiundzwanzig Jahre, in denen ein Han-Kaiser nach solchen Grundsätzen regierte, sollen zu den glücklichsten in der Geschichte Chinas gehören. Dem Meister selbst war weniger Glück beschieden. Davon berichtet ‚Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Verbannung’.

Der arme BB

Mit diesem wunderbaren Gedicht sind wir bei Bertolt Brecht und einem ganz besonderen Fall. Als die Bauarbeiter auf der Ostberliner Stalinallee sich am 17. Juni 1953 erhoben, da wartete alles gespannt darauf, was der Klassiker auf der Seite des Volkes dazu sagen würde. Zügig druckte denn auch das Neue Deutschland eine kurze Stellungnahme: Darin verurteilte der Dichter den Aufstand. Die Verachtung der Werktätigen war grenzenlos. Tatsächlich hatte Brecht einen langen Brief an das Zentralkomitee geschrieben, in dem er Verständnis für die Proteste zeigte und viele Überlegungen zu einer möglichen besseren Politik der Partei anstellte. Die Redaktion brachte eine kurze Passage daraus, die man, isoliert, als Kritik an den Aufständischen lesen konnte.

Nun hätte der so Benutzte jederzeit die Zensur aufdecken und seine wirkliche Position bekannt machen können, etwa nach einer damals noch mühelosen Flucht in den Westen. Er tat es nicht. Die ihn kannten, sagen, weil er dafür etwas hätte aufgeben müssen, das kaum einem Dramatiker je vergönnt war: das eigene Theater. Der Marxist, der in östlichen Weisheiten so bewandert war, dachte hier westlich. Herrn K., sein Alter Ego, lässt er sagen: „Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.“ Ein echter Wegweiser eben. Doch bei keinem fällt mir der Spott schwerer. Dass sein Bekennermut als Mensch hinter dem des Künstlers zurück blieb, hat seiner Lehre zweifellos schwer geschadet. Aber auch seiner Kunst? Steht sie heute nicht noch dauerhafter für eine Sache, die größer ist als alle Ideologien? Ich weiß es nicht und kann mich nicht entscheiden. Doch müsste ich aus all dem einen Schluss ziehen, so würde er wohl lauten: Propagiere nie eine Maxime, die du selbst nicht auch unter schwierigsten Umständen zu leben dir zutraust.

August 2011

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