Die Mandelkern-Kolumne / Folge 1

Über Stärken und Schwächen

Ihr Ansprechpartner: Karl-Heinz Schulz Karl-Heinz Schulz

In Zeiten fortgesetzter Selbstoptimierung sind wir natürlich alle perfekt. Nur ich löcke wieder mal gegen den Stachel, kultiviere meine Zweifel und mahne: vergesst mir die Schwächen nicht.

Zu den unausrottbaren Mythen im Management gehört die Behauptung, Unternehmen konzentrierten sich zu sehr auf die Schwächen ihrer Mitarbeiter. Statt diese verringern zu wollen, sei es lohnender, ihre Stärken zu entwickeln. Ich halte diese Ansicht für falsch, ihre möglichen Folgen für bedenklich. Vereinfacht gesagt, liegt ihr eine Verwechslung von Stärken und Fähigkeiten zugrunde. Und umgekehrt werden fachliche Defizite und Schwächen vermengt. Das kann dazu beitragen, dass Menschen immer wieder die gleichen Fehler machen - jene nämlich, die aus ihren Schwächen resultieren.

Nun werden Sie womöglich fragen: Stärken und Fähigkeiten – ist das nicht dasselbe? – und befinden sich damit in bester Gesellschaft. Scharen von Autoren werfen Jahr um Jahr Management-Ratgeber auf den Markt, die genau dies nahe legen. „Stärken stärken“ heißt ein Buch von Alexander Christiani und Frank M. Scheelen – und im Untertitel: „Talente entdecken, entwickeln und einsetzen.“ Da haben wir es. Talente, also die Grundlage von Fähigkeiten, und Stärken sind eins. Selbst der verstorbene, häufig als Management-Papst bezeichnete Peter F. Drucker benutzte Stärken als Synonym für Fähigkeiten. Und die Amerikaner Marcus Buckingham und Donald Clifton vom renommierten Gallup-Institut stellen in ihrem Buch: „Entdecken Sie Ihre Stärken jetzt“ eine Art Detektor vor: „Die 34 Talent-Leitmotive des StrenghtsFinder“ – so die Überschrift zu Kapitel 4. Was für ein Salat! Ist es wirklich das Gleiche, ob wir von einem Kind sagen, es besitze eine ausgesprochene mathematische Begabung, oder ob wir seinen Fleiß rühmen?

Nun gut, werden Sie vielleicht einräumen, das ist in der Tat etwas Verschiedenes. Aber ist der Unterschied auch wichtig? Name ist Schall und Rauch, befand schließlich schon Goethes Faust, Gefühl ist alles. Nietzsche dagegen meinte, den Stil verbessern, heiße, die Gedanken zu verbessern, und unversehens stecken wir tief in der philosophischen Debatte darüber, was Sprachlogik vermag und was nicht. Für den großen Soziologen und Systemtheoretiker Niklas Luhmann ging jede Theoriebildung über die - wie er es nannte – saubere Konstruktion von Begriffen. Das verträgt sich gut mit einem pragmatischen Vorschlag, den ich überzeugend finde. Nach diesem - ebenfalls aus der Systemtheorie stammenden - Ansatz kommt es nicht so sehr darauf an zu fragen, was richtig oder was falsch ist, sondern: „Welche Ansicht führt zu welchen Lösungen?“

Eine folgenreiche Unterscheidung: Inhalts- und Beziehungsebene

Eines der fruchtbarsten Beispiele für diese im wörtlichen Sinne lösungsorientierte Herangehensweise ist die begriffliche Differenzierung zwischen Inhalts- und Beziehungsebene. Obwohl beide in der Wirklichkeit immer untrennbar miteinander verwoben sind, hilft es ungemein, sie zu unterscheiden. So kann es, wie wir alle wissen, enorm entlastend wirken, wenn man etwa in professionellen Kontexten aufzeigt, dass eine Kritik nicht eine Person (Beziehung) meint, sondern nur eine von ihr getane Arbeit (Inhalt). Und es kann zumindest hilfreich sein, wenn man etwa in privaten Konstellationen viel in die Lösung von Interessenkonflikten investiert – und doch wird eine Beziehung nicht besser. Dann glaubt man schnell, was Gregory Bateson behauptete: 90 Prozent aller Konflikte siedeln auf der Beziehungsebene. Nicht der Streit in der Sache entzweit Menschen in der Regel, sondern die Art, wie sie streiten.

Ich schlage nun für unseren Kontext eine analoge Begriffsbildung vor, dergestalt, dass Stärken und Schwächen zur Beziehungsebene gehören, Talente bzw. Fähigkeiten und Defizite dagegen zur Inhaltsebene, die manche auch Sachebene nennen. Und mit einem Schlage wird klar, wie fragwürdig die Behauptung ist, Menschen wie Unternehmen müssten ihre Tätigkeit auf ihren Stärken gründen. Die Grundlage für den beruflichen Erfolg von Menschen liegt in ihren Talenten. Wenn sie ihren Neigungen folgen und vor allem das tun, was sie gerne tun, dann werden aus ihren Talenten Fähigkeiten. Manche davon machen sie zu ihrem Beruf, andere zu Hobbies.

Die Basis für den Erfolg von Unternehmen sind ebenfalls Fähigkeiten oder Kernkompetenzen. Stärken, wie etwa eine gute Unternehmenskultur, sind wichtig, um diese Fähigkeiten zu entfalten, stabilisieren oder weiter zu entwickeln. Aber eine gute Unternehmenskultur produziert keine Autos, Uhren oder sonst etwas, noch verkauft sie welche. Allerdings, und das ist wichtig, kann sie den Ausschlag geben, in allem etwas besser zu sein als der Wettbewerb.

Stärken stärken?

Hören wir nun, was jemand dazu sagt, der das völlig anders sieht. Fragen wir, was Fredmund Malik demgegenüber mit der auch von ihm vertretenen Maxime „die Stärken stärken“ meint. In seinem Werk „Management – das A und O des Handwerks“, Band 1, schreibt der angesehene und verdienstvolle Berater unter der Überschrift: „Menschen fördern und entwickeln“: „Es heißt, ihre Stärken zu nutzen und ihre Schwächen bedeutungslos zu machen – nicht dadurch, dass man diese beseitigt (was ohnehin nur selten gelingt), sondern dadurch, dass man Menschen dort einsetzt, wo ihre Schwächen keine Rolle spielen. Es ist bedeutungslos, wenn ein Bergführer nicht musikalisch ist; und Höhenangst ist unwichtig für den Violinsolisten.“

Zugegeben: Das klingt ebenso originell wie plausibel. Aber wie belastbar ist diese Denkfigur? Zunächst einmal dürfen wir annehmen, dass Malik – wie Drucker, Christiani, Buckingham und all die anderen - mit „Stärken“ Fähigkeiten meint. Weil unser Alpinist schon als Bub klettern konnte wie eine Gemse, also etliche Talente von der Art behender und schwindelfreier Sportlichkeit besaß und diese immer weiter entwickelte, verfügt er jetzt über die Fähigkeiten, die ihn zum Bergführer qualifizieren. Und weil unser Musiker schon als Kind mit seinem absoluten Gehör und mehr auffiel, hat er es bis zum ersten Geiger gebracht.

Beide tun, wie alle anderen Menschen, gut daran, dabei nicht stehen zu bleiben und ihre beruflichen Fähigkeiten immer wieder zu schulen, möglichst auszubauen. Aber das heißt gerade nicht, die Stärken zu stärken. Es heißt, sich fachlich weiterzubilden. Und hier gibt es zumindest kein Erkenntnisdefizit. Alle Welt weiß um die Bedeutung dieser Art von Weiterbildung. Sie genießt in vielen Unternehmen einen hohen Stellenwert, in machen Berufen (Ärzte z.B.) ist sie Pflicht. Dennoch kann man ihre Bedeutung nie genug betonen, denn zwischen Erkenntnis und Umsetzung klafft vielfach die berühmte Lücke. Sollte Malik das gemeint haben, so wäre sein Postulat immerhin praktisch verdienstvoll. Freilich mit der Einschränkung, dass es bei der Weiterbildung nicht nur darauf ankommt, das Vorhandene zu „stärken“, also auszubauen, sondern häufig auch, Lücken zu schließen, also Defizite abzubauen.

Anders sieht das bei seinem Begriff der Schwächen aus: „…dass man Menschen dort einsetzt, wo ihre Schwächen keine Rolle spielen. Es ist bedeutungslos, wenn ein Bergführer unmusikalisch ist, und Höhenangst ist unwichtig für den Violinsolisten.“ Erstens: Nicht musikalisch zu sein, ist keine Schwäche. Es ist ein Talent, das man nicht hat. Niemand kommt ohne Musikalität in die Verlegenheit, überhaupt nur Lehrer am Konservatorium zur Verzweiflung zu bringen, geschweige denn einen Orchesterleiter, der nicht weiß, wohin mit ihm. Die Höhenangst dagegen kann durchaus eine solche Schwäche sein. Dann nämlich, wenn sie z.B. unseren Bergführer befällt. Und warum sollte sie nicht? Psychische Phänomene richten sich nicht nach Management-Lehrbüchern.

Was macht unser Bergführer dann? Muss er den Beruf aufgeben wie ein Bäcker mit Mehlstaub-Allergie? Oder sagt er – und beweist damit Stärke: „Diese meine Höhenangst wäre unter anderen Umständen vielleicht zu vernachlässigen. Aber in meinem Beruf als Bergführer ist sie ein echtes Handicap, ich könnte auch sagen: eine Schwäche, und Schwächen kann man bekämpfen.“ Also begibt er sich in psychotherapeutische Behandlung, und wie man weiß: Seine Prognose ist gut. Auch für unseren Violinisten kann Höhenangst Bedeutung haben. Weil sie, wie gesagt, jeden treffen kann. Und weil sie, nicht behandelt, eskalieren kann. Denn durch konsequente Vermeidung kann aus „dem bisschen Angst“ eine richtige Phobie werden, und wie Psychologen sagen: Eine Phobie heckt die nächste. Am Ende kann da ein Berufsmusiker mit Angst vor Menschenansammlungen stehen. Und dann?

Selbstmanagement und soziale Kompetenz

Noch einmal: Wir streiten nicht um Wörter. Es geht um die Lösungen, zu denen Ansichten führen – in unserem Fall also der Rat, Menschen dort einzusetzen, wo ihre Schwächen keine Rolle spielen. Schön wär’s. Dumm nur, dass man seine Schwächen immer dabei hat; dass sie immer mit im Spiel sind – die Stärken zum Glück aber auch. Denn beide betreffen unser Verhalten, unsere Persönlichkeit. Deshalb gehören sie auf die Beziehungsebene. Dort nämlich wird geregelt, wie wir mit uns selbst und mit anderen umgehen.

Nehmen wir den Fall jenes jungen Fußballprofis, der mit seinen Fähigkeiten als Spielgestalter für Furore sorgt, sich aber in einer einzigen Saison mit Revanchefouls drei Platzverweise eingehandelt hat. Seine ganze große Begabung, seine Talente und die daraus – mit viel Training – entwickelten Fähigkeiten könnten ihn nicht vor dem Karriereabsturz bewahren, würde er nicht seinen Jähzorn besser in den Griff bekommen. Ein Beispiel für Schwächen, die stets und überall eine Rolle spielen, weil sie den Besitzer ungeachtet aller seiner Fähigkeiten immer wieder zu Fehlleistungen verleiten. Und von dieser Art sind nach meiner Beobachtung auch die meisten Fehler und damit Konflikte in Unternehmen. Sie entspringen individuellen Verhaltensweisen, persönlichen Schwächen. Viel zu viele Führungskräfte haben nach meinem Eindruck nicht gelernt, damit gut umzugehen. Nicht bei sich selbst, nicht bei andern.

Berufliche Weiterbildung meint ja zu ihrem übergroßen Teil die Entwicklung fachlicher Kompetenzen. Ihr gelten die meisten Aufwendungen. Doch der wirkliche Engpass liegt, wie mir scheint, auf der Beziehungsebene, bei den Lücken im Selbstmanagement und in der sozialen Kompetenz. Ein großes ungenutztes Potenzial: sich den Schwächen zu stellen. Genau darin besteht die Bedeutung der richtigen Begriffsbildung: Ein bestimmtes Talent hat man oder man hat es nicht. Nicht von ungefähr spricht man auch von einer Gabe. Ein unsportlicher Mensch kann mit keiner Anstrengung dieser Welt ein Berufssportler werden. Aber Stärken kann man vergrößern, ja, sogar sich neu aneignen, und Schwächen kann man verringern. Beides hat einen großen Einfluss darauf, was wir aus unseren Talenten machen. Schwächen bedeutungslos machen zu wollen, ist dagegen ein aussichtsloses Unterfangen. Lohnender ist, sie in Stärken zu verwandeln. Mehr darüber in einer der nächsten Folgen.

Januar 2010

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