Die Mandelkern-Kolumne / Folge 3

Im Wertekaufhaus

Ihr Ansprechpartner: Karl-Heinz Schulz Karl-Heinz Schulz

Der Begriff der Wertschätzung hat eine phänomenale Karriere hinter sich. Durchaus zu Recht, wie ich finde. Allerdings hatte ich schon zu Beginn seines Aufstiegs das unangenehme Gefühl, dass er auch sehr gut als Mohrrübe taugt, die man dem Esel vor die Nase hält. Willkommen im Wertekaufhaus.

Im legendären BLOCK-Training gab es einen bemerkenswerten Kaufladen: eine Liste mit vierzig immateriellen Gütern wie ‚finanzielle Sicherheit’ oder ‚Zeit mit der Familie’. Ausgestattet mit Spielgeld, durfte man eine begrenzte Anzahl davon erwerben. Danach erhielt man die gleiche Liste noch einmal. Aber nun war jedem der Güter ein bestimmter Begriff zugeordnet. So fand man die persönlichen Präferenzen entschlüsselt und sich selbst unversehens im Besitz seiner fünf höchsten Werte. Die eigene Ethik lag plötzlich klar zu Tage. Nie werde ich meine Verblüffung vergessen, als ich aus dem Wertekaufhaus kam und mir meinen Warenkorb noch einmal betrachtete. Aber der Inhalt gefiel mir, und ich halte ihn bis heute in Ehren.

Nie hat mich seither auch das Staunen darüber verlassen, wie komplex solche Normen in unser Denken, Fühlen und Verhalten eingewoben sind; wie sicher wir zumeist im Alltag wissen, was wir richtig und falsch finden – und wie schwer wir uns tun, wenn wir die zugrunde liegende Ethik erläutern sollen. Das selbstironische ‚Wertekaufhaus’ treibt diese Verwirrung auf die Spitze. Was geschieht, wenn das Herz doch einmal an der Börse gehandelt wird? Zunächst, könnte man denken, geht es bei dem Gedankenexperiment um eine Kernfrage der Moralphilosophie: Hat die Tugend ihre Begründung in sich selbst oder muss sie stets geprägt sein von Nützlichkeitserwägungen?

Max Scheler hatte diese alte Debatte als erster in dem Gegensatz von Gesinnungs- und Erfolgsethik auf den Punkt gebracht; in der Formulierung von Max Weber wurde sie berühmt: Bekanntlich setzte er der Gesinnung die Verantwortung entgegen. Manche Philosophen bestreiten freilich, dass dies eine vernünftige Gegenüberstellung sei, und die geschmeidige Pragmatik betriebswirtschaftlicher Realität springt ihnen zur Seite. So findet man in neueren Unternehmensleitbildern immer wieder Sätze wie diesen: „Es sind Werte, die den Wert treiben“. Ein anderes Axiom versteht das flinke Spiel mit dem doppelsinnigen Wort noch besser: „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ postuliert es und bündelt so die Bemühungen, den Nutzen einer mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur ökonomisch zu begründen. Ja, es will sogar ihre wirtschaftliche Überlegenheit geltend machen.

Wissensökonomie

Das entscheidende Argument leuchtet unmittelbar ein: Die Kopfarbeiter der Wissensökonomie kann man nicht behandeln wie die Handarbeiter an den tayloristischen Fließbändern. Während man letztere etwa mit Stücklohn-Akkorden gut zum Funktionieren bringt, weil ihre Ergebnisse leicht zähl- und messbar sind, versagt dieser Ansatz bei Wissensarbeitern allzu oft. Woran erkennen wir, dass, sagen wir, ein Entwickler von Unternehmensstrategien wirklich sein Bestes gegeben hat? Und wie können wir ihn – oder sie - motivieren, das fortwährend zu tun? Ganz einfach, meinen die Anhänger dieser Theorie: indem wir sie gut behandeln. Und in der Tat glauben manche großen Unternehmen inzwischen, dass sie diesen Zusammenhang durch ihre Mitarbeiterbefragungen beweisen können: Wo gut, nämlich ‚wertschätzend’, geführt wird, da seien auch die ökonomischen Ergebnisse besser.

Skeptiker verweisen indes auf eine vertrackte Henne-Ei-Problematik. Sind die besagten Unternehmen wirklich erfolgreich, weil sie so menschenfreundlich sind oder verhält es sich womöglich umgekehrt? Gießen sie demnach Wohltaten über ihre Mitarbeiter aus, weil sie es sich leisten können? Manche jungen, klugen BWL-Professoren hoffen inzwischen, dass sie die alte Streitfrage werden lösen können: mit Längsschnittuntersuchungen und der richtigen Mathematik. Ich habe meine Zweifel. Zum einen ist die Welt voll von Beispielen, die auch das Gegenteil beweisen. Will sagen: Selbst mit einer ganz und gar nicht mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur kann man sehr erfolgreich sein. Und solange die Bevölkerung im Weltmaßstab wächst – und das wird sie wohl noch etwa 90 Jahre tun - ist nicht zu sehen, warum sich das ändern müsste.

Koltan

Schlimmer noch: Wenn es auch zweifellos richtig ist, dass der demographische Wandel Fachkräfte in unseren Breiten rarer und also kostbarer macht, ist damit für unsere Frage gar nichts gewonnen. Nehmen wir einen Inbegriff der Wissensökonomie, das Mobiltelefon: Was ist mit den Opfern der Rebellenkriege, die im Ostkongo um den Rohstoff Koltan geführt werden? Was ist mit den Arbeitern, die sich, verzweifelt über ihre Arbeitsbedingungen bei der Herstellung dieser Wunderwerke, aus den Fenstern chinesischer Fabriken zu Tode stürzen? Wie weit reicht unsere Wertschöpfungskette? Und können wir uns hierzulande die Wertschätzung untereinander auch deshalb leisten, weil sie dort verweigert wird?

Selbst jene Unternehmen, die sich solch unangenehmen Fragen nicht stellen müssen, weil sie von der Quelle bis zur Mündung ihres Waren- oder Dienstleistungsflusses so gut dastehen, wie man in dieser Welt nur dastehen kann, sind leider kein Beleg für die Richtigkeit der These von der Wertschöpfung durch Wertschätzung. Die jüngste Finanzkrise hat vor Augen geführt, wie schnell exogene Schocks auch Leuchttürme einer guten Unternehmenskultur in ihrem Bestand gefährden können. So unverschuldet die Bedrohung, so wenig hilft dann Wertschätzung. Aber gar nicht genug Respekt kann man jenen zollen, die sie unter solchen Umständen nicht preisgeben. Denn Wertschätzung ist ein ethisches Prinzip. Wertschöpfung dagegen meint ökonomische Ergebnisse. Und beide können in Widerstreit geraten.

In zugespitzten Situationen, wenn es um das Überleben geht, und als ultima ratio Arbeitsplätze Einzelner, selbst vieler Einzelner, gegen den Bestand des Ganzen aufgewogen werden müssen, ist tatsächlich Verantwortungsethik gefragt. Aber sie gelingt nicht ohne Gesinnungsethik. Selbst in solchen Grenzsituationen fühlen sich manche Menschen mit Anstand und Fairness behandelt - und viele andere nicht. Spätestens dann erweist sich, welches Menschenbild am Werke ist. Die Ökonomie steht, wie Friedrich Hayek gesagt hat, mit einem Bein in den Naturwissenschaften. Und deshalb bleibt es wahr, dass wir Menschen mit unserer Arbeit einen Produktionsfaktor bilden, wie Boden und Kapital. Aber mit dem anderen Bein steht die Ökonomie in den Sozialwissenschaften, und deshalb ist es Unsinn, dass etwa eine bestimmte Umsatzrendite mit der Unerbittlichkeit eines Naturgesetzes notwendig sei. In anderen Worten: Es bleibt immer genug Spielraum für Ethik, also für ein Menschenbild, das Menschen nicht als Kosten, sondern als Menschen sieht. Wertschöpfung und Wertschätzung sind möglich. Wertschöpfung durch Wertschätzung ist dagegen nur ein Kalkül.

Januar 2011

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